Feder schreiben
An einem Mittwoch im September hole ich meine jüngste Enkeltochter von der Schule ab. Die Sonne scheint – ein feiner Altweiber-Sommer-Tag.

Während meine Enkelin neben mir spaziert und ihre Schulerlebnisse erzählt, fällt mir ein schwarzer Wurm im Blickfeld meines linken Auges auf. Der ist neu. Mir nicht bekannt. Wie ein Spermium, nur schwarz.

Nein, ich hab´ nicht zu lang in die Sonne geschaut und die Augen hab´ ich mir auch nicht gerieben. Eine Reihe von Augenerkrankungen geht mir durch den Sinn: Makuladegeneration? Grauen Star? Grünen Star? Netzhautablösung? Der innere Film macht mir kurz Angst. Einen Augenblick lang fällt es mir schwer, den lebhaften Erzählungen der Erstklässlerin zu folgen – abgelenkt vom schwarzen Wurm und seinen möglichen Folgen. Nach einem kurzen Schreckmoment bin ich wieder ganz im Augenblick. Kochen, Kinder, Künstlerisches.

Die Theaterprobe steht am Abend an.

Im Dunkeln sehe ich Blitze von links. Am nächsten Tag gehe ich zur Augenärztin, die mir nach gründlicher Untersuchung erklärt:
„Die Trübung im Glaskörper habe ich gleich gesehen. Aber die Netzhaut ist in Ordnung. Also – es handelt sich um eine Glaskörperablösung. Das hat jeder irgendwann. Wenn sich der gallertartige Glaskörper von der Netzhaut löst, macht das Würmer oder Flecken, die sich ändern.

Tun kann man nichts.

Man gewöhnt sich daran. Die Blitze im Dunkeln sollten aufhören.“
„Was, wenn die Blitze nicht aufhören?“, frage ich.
„Dann muss man noch einmal schauen und eventuell lasern.“ Na gut. Damit kann ich leben. Froh über die milde Diagnose zahle ich und gehe nachdenklich nach Hause.

Irgendwie spüre an diesem Tag meine Vergänglichkeit und betrauere den ersten Verlust.

Ich habe meine Unversehrtheit verloren und habe mich zu gewöhne: an den schwarzen Wurm als mein neues Haustier.

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